Konstruktive Nacherbfolge bei unvollständiger oder bedingter Erbeinsetzung

Die Vor- und Nacherbschaft muss in einem Testament nicht ausdrücklich angeordnet sein. Diese kann sich auch dann ergeben, wenn der vom Erblasser geäußerte Wille am ehesten mit dieser rechtlichen Konstruktion zu realisieren ist und die gesetzlichen Regeln für die Auslegung von Testamenten zur Anwendung kommen. Man spricht dann von einer „konstruktiven Nacherbfolge“, die zwar vom Erblasser als solche nicht beabsichtigt sein mag, die aber die in einem unvollständigen Testament enthaltenen Lücken in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften schließt. Im Folgenden werden einzelne Fallkonstellationen dargestellt, die zu einer konstruktiven Nacherbfolge führen können.

1. Gesetzliche Erben als Nacherben, § 2104 BGB
Wenn der Erblasser bestimmt, dass der Erbe seine Erbenstellung nur bis zu dem Eintritt eines bestimmten Zeitpunktes oder Ereignisses innehaben soll, er aber nicht festlegt, wer danach Erbe werden soll, so bringt er damit zum Ausdruck, dass der zunächst eingesetzte Erbe nur Vorerbe sein soll. Der Eintritt des benannten Ereignisses oder Zeitpunktes gilt dann als Nacherbfall. Lässt sich aus dem Testament die Person des Nacherben nicht ermitteln, so nimmt § 2104 BGB an, dass die gesetzlichen Erben des Erblassers zum Zeitpunkt des Nacherbfalls als Nacherben eingesetzt sind.

Die Rechtsprechung (OLG Hamm, NJW-RR 1995, 1477) nimmt diese konstruktive Nacherbfolge auch an, wenn der Erblasser es dem Vorerben überlässt, die Person des Nacherben zu bestimmen. Denn eine solche Verfügung verstößt gegen den gesetzlichen Grundsatz, wonach die Person des Erben nur von dem Erblasser selbst bestimmt werden kann. Auch in diesem Fall ist dann davon auszugehen, dass das Testament keine Regelung über die Person des Nacherben enthält, so dass hier die gesetzlichen Erben herangezogen werden.

Auch für den Fall, dass der eingesetzte Vorerbe ausdrücklich nicht Vollerbe werden soll, es aber an einem Nacherben fehlt, weil dieser weggefallen ist oder gar nicht geboren wird, kann diese Auslegungshilfe herangezogen werden.

2. Gesetzliche Erben als Vorerben, § 2105 BGB
Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Der Erblasser hat zwar bestimmt, dass die bedachte Person den Eintritt eines bestimmten Zeitpunktes oder Ereignisses- also den Nacherbfall- abzuwarten hat, aber nicht festgelegt, wer bis dahin Erbe sein soll. Es kann auch vorkommen, dass der zunächst eingesetzte Vorerbe bereits vor Eintritt des Nacherbfalls wegfällt. Dann sind gem. § 2105 I BGB für diesen Zeitraum die gesetzlichen Erben Vorerben.

Gem. § 2105 II BGB gilt dies auch für den Fall, dass eine zum Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht gezeugte Person als Erbe eingesetzt ist- beispielsweise das erste Kind der Tochter des Erblassers, wenn diese aktuell noch kinderlos ist. Denn Erbe können nur die bei Eintritt des Erbfalls lebenden oder zumindest gezeugten Personen werden. Auch dann sind also die gesetzlichen Erben Vorerben.

3. Konstruktive Nacherbfolge bei bedingter Erbeinsetzung
Häufig wird der Erbe unter einer bestimmten Bedingung eingesetzt. Hierbei wird rechtlich zwischen aufschiebenden und auflösenden Bedingungen unterschieden. Erstere führen die Zuwendung bei ihrem Eintritt erst herbei, letztere lassen sie entfallen. Auch hier sind gesetzliche Auslegungsregeln im Bereich der Vor- und Nacherbfolge zu berücksichtigen.

Nach § 2074 BGB ist eine letztwillige Zuwendung unter einer aufschiebenden Bedingung im Zweifel so zu verstehen, dass die Zuwendung nur gilt, wenn der Bedachte den Eintritt der Bedingung erlebt. Handelt es sich dabei um eine Erbeinsetzung, so ist hier von Nacherbfolge auszugehen. Wenn dann nicht bestimmt ist, wer bis zum Bedingungseintritt Vorerbe sein soll, so sind dies im Zweifel die gesetzlichen Erben, siehe oben.

Wird eine Zuwendung unter der Bedingung gemacht, dass der Bedachte in einem unbestimmten Zeitraum etwas tut oder unterlässt, so ist nach der Regel des § 2075 BGB davon ausgehen, dass die Zuwendung unter einer auflösenden Bedingung erfolgt ist. Ein wichtiger Anwendungsfall hierfür sind so genannte Wiederverheiratungsklauseln: Wenn sich Ehegatten gegenseitig als Erben einsetzen, so tun sie dies häufig nur unter der auflösenden Bedingung, dass der überlebende Ehegatte nicht wieder heiratet, um die Weitergabe des Vermögens außerhalb der ursprünglichen Familie zu verhindern. Heiratet der Überlebende nun erneut, so verliert er seine Erbenstellung. Wenn in dieser Konstellation Vor- und Nacherbfolge gewollt ist, so ist der überlebende Ehegatte Vorerbe; mit erneuter Heirat tritt dann vorzeitig der Nacherbfall ein.

Generell gilt, dass das Gesetz mit Auslegungsregeln über etwaige Lücken in einem Testament hinweghelfen kann. Allerdings ist nicht gewährleistet, dass die damit gefundenen Ergebnisse sich ganz mit dem Willen des Erblassers decken. Wer sicherstellen möchte, dass sein Wille im Testament vollständig zum Ausdruck kommt und nach dem eigenen Tod Berücksichtigung finden kann, sollte sich für die Errichtung einer letztwilligen Verfügung anwaltlich beraten lassen.

Tanja Stier
Rechtsanwältin

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