Wenn durch die Verfügung von Todes wegen Vor- und Nacherbfolge bestimmt ist, dann beabsichtigt der Erblasser damit die Weitergabe seines Vermögens über mehrere Generationen hinweg. Dies erreicht er dadurch, dass der Vorerbe beim Erbfall, also dem Tod des Erblassers, den Erbteil zunächst selbst persönlich und unmittelbar erhält, er dieses Vermögen aber nicht selbständig weitervererben kann. Vielmehr fällt der Nachlass nach dem Tod des Vorerben dem zuvor vom Erblasser bestimmten Nacherben zu. Es fällt also ein und dieselbe Erbschaft verschiedenen Erben desselben Erblassers nacheinander zu. Um zu garantieren, dass das Nachlassvermögen tatsächlich so weitergegeben wird, wie es der Erblasser ursprünglich bestimmt hat, und nicht etwa bereits durch den Vorerben als ersten Erben aufgebraucht wird, bildet das vererbte Vermögen in der Hand des Vorerben ein rechtlich getrenntes Sondervermögen. Über dieses kann der Vorerbe nur in begrenztem Umfang verfügen: Er muss dem Nacherben die Substanz des vererbten Vermögens erhalten und darf den Nachlass oder Gegenstände daraus nicht selbst weitervererben. Verfügungen über Grundstücke, die Aufnahme von Hypotheken oder Grundschulden darauf und Schenkungen aus dem Nachlass kann der Vorerbe nicht ohne die Zustimmung des Nacherben vornehmen- diese sind sonst unwirksam. Hinzu kommen Sicherungs- und Kontrollrechte des Nacherben, was die Verwaltung des Nachlasses anbelangt. Freilich treten auch Konstellationen auf, in denen zwar der Vermögensfluss über mehrere Erbfälle hinweg gesteuert werden, der Vorerbe aber gerade nicht den genannten gesetzlichen Beschränkungen unterliegen soll. Auch diese Möglichkeit ist im Gesetz vorgesehen; es spricht dann vom „befreiten Vorerben“.
1. Wie wird die Befreiung des Vorerben herbeigeführt?
Das Gesetz lässt die Möglichkeit zu, den Vorerben durch entsprechende Bestimmungen in der letztwilligen Verfügung von den genannten Beschränkungen zu befreien. Für die genaue Ausgestaltung dieser Befreiung wird dem Erblasser ein weiter Spielraum eingeräumt. Er braucht auch, wie in vielen Fällen, nicht ausdrücklich den gesamten Inhalt der Befreiung zu bestimmen. Entscheidend ist, dass in seinem Testament die Privilegierung des Vorerben hinsichtlich dessen Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, also der Befreiungswille zum Ausdruck kommt. Nachdem das Gesetz Fälle berücksichtigen möchte, in denen der Erblasser die genaue Bedeutung der juristischen Fachbegriffe nicht kennt und seinen letzten Willen mit anderen als den im Normtext enthaltenen Worten ausdrückt, enthält es für diese Konstellation einige Regeln zur Auslegung von Testamenten. Danach gilt der Vorerbe dann als befreit, wenn der Nacherbe
• auf dasjenige eingesetzt wird, was von der Erbschaft bei Eintritt der Nacherbfolge, also dem Tod des Vorerben, noch übrig sein wird
• wenn der Vorerbe zur freien Verfügung über den Nachlass ermächtigt wird
Schwierig ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung zwischen der Einsetzung zum befreiten Vorerben und der Einsetzung zum Vollerben, der lediglich mit einem Vermächtnis für den Fall seines Todes beschwert ist. Dieses Vermächtnis würde sich dann auf die einzelnen Gegenstände des ursprünglichen Nachlasses beziehen, die nach dem Tod des Erben noch verblieben sind.
2. Wovon genau kann der Vorerbe befreit werden?
Es ist im Gesetz ausdrücklich aufgezählt, von welchen Beschränkungen der Vorerbe durch die Verfügung von Todes wegen befreit werden kann. Eine Befreiung ist insbesondere möglich von
• dem Verbot, über ein zur Erbschaft gehörendes Grundstück oder Recht an einem Grundstück oder über ein zur Erbschaft gehörendes eingetragenes Schiff oder Schiffsbauwerk ohne Zustimmung des Nacherben zu verfügen
• der Beschränkung, dass der Vorerbe eine Zahlung auf eine Hypothekenforderung, eine Grundschuld, eine Rentenschuld oder eine Schiffshypothekenforderung aus dem Nachlass nicht ohne Einwilligung des Nacherben verlangen kann
• der Pflicht zur Hinterlegung bestimmter Inhaberpapiere mit der Bestimmung, dass die Herausgabe nur mit Zustimmung des Nacherben verlangt werden kann
• der Pflicht zur Kennzeichnung bestimmter Buchforderungen mit dem Vermerk, dass der Vorerbe darüber nur mit Zustimmung des Nacherben verfügen kann
• der Pflicht, Geld, das nach den Regeln einer ordnungsmäßigen Wirtschaft dauernd anzulegen ist, nur nach den für die Anlegung von Mündelgeld geltenden Vorschriften anzulegen
• dem Recht des Nacherben, die Nutzung eines Waldes, der zur Erbschaft gehört anhand eines Wirtschaftsplans regeln zu lassen
• dem Auskunftsrecht des Nacherben hinsichtlich des Bestandes der Erbschaft
• den Verwaltungsbeschränkungen des Vorerben, insbesondere der Möglichkeit der Entziehung der Verwaltung
• der Herausgabe- oder Ersatzpflicht des Vorerben gegenüber dem Nacherben bei ordnungswidriger oder übermäßiger Ziehung von Früchten aus dem Nachlass
• der Pflicht zum Wertersatz, wenn in die Substanz des Nachlasses eigennützig eingegriffen wird
Im Ergebnis darf also der befreite Vorerbe Gegenstände aus dem Nachlass veräußern, den Erlös für sich selbst verbrauchen und das Nachlassvermögen ohne weitere Vorgaben und Sicherungs- oder Kontrollrechte des Nacherben verwalten.
3. Wovon kann der Vorerbe nicht befreit werden?
Da die gesetzliche Aufzählung der Befreiungsmöglichkeiten abschließend ist, ist eine weitergehende Befreiung des Vorerben nicht möglich. Auch der befreite Vorerbe unterliegt also
• dem Verbot, unentgeltlich über Gegenstände aus dem Nachlass zu verfügen; eine solche Verfügung ist dem Nacherben gegenüber unwirksam. Auch der befreite Vorerbe kann also nur dann ohne Zustimmung des Nacherben über einen Nachlassgegenstand verfügen, wenn die Verfügung vollständig entgeltlich war, wenn also eine adäquate Gegenleistung vorliegt.
• dem Grundsatz, dass auch solche Gegenstände, die der Vorerbe aufgrund eines Rechts, das zum Nachlass gehört, aufgrund der Zerstörung, Beschädigung oder Entziehung eines zum Nachlass gehörenden Gegenstandes oder durch ein Rechtsgeschäft mit Mitteln der Erbschaft erwirbt, wieder Gegenstände des Nachlasses werden, sofern diese dem Vorerben nicht als Nutzungen gebühren (man spricht hier vom Grundsatz der dinglichen Surrogation); damit wird gewährleistet, dass der wirtschaftliche Wert der Erbschaft durch Rechtsgeschäfte mit entsprechender Gegenleistung nicht verringert wird
• der Beschränkung, dass Vollstreckungsgläubiger des Vorerben keine Zwangsverfügungen über Nachlassgegenstände zu Lasten des Nacherben treffen können
• der Verpflichtung, dem Nacherben auf dessen Verlangen hin ein Verzeichnis der zur Erbschaft gehörenden Gegenstände vorzulegen
• der Verpflichtung, den Zustand der Erbschaft auf Verlangen des Nacherben durch einen Sachverständigen feststellen zu lassen
• der Verpflichtung, dem Nacherben Schadensersatz zu leisten, wenn er über einen Nachlassgegenstand unentgeltlich verfügt hat oder den Wert der Erbschaft vermindert hat, um damit bewusst den Nacherben zu benachteiligen
4. Kann eine noch weiter gehende Befreiung des Vorerben erreicht werden?
Eine Möglichkeit, den Vorerben noch weiter von den gesetzlichen Beschränkungen zu befreien, ist die Anordnung eines Vorausvermächtnisses zugunsten des Vorerben. Der Erbe kann damit Gegenstände aus dem Nachlass herauslösen und damit den gesetzlichen Beschränkungen von Anfang an entziehen.
Umgekehrt kann eine Befreiung des Vorerben auch über eine Beschwerung des Nacherben erreicht werden: Wird der Nacherbe mit einem Vermächtnis beschwert, einer bestimmten Reihe von Verwaltungshandlungen oder Verfügungen des Vorerben zuzustimmen, so hat im Ergebnis der Vorerbe hinsichtlich dieser Geschäfte Handlungsfreiheit.
Man spricht in diesen Fällen, in denen über die schon im Gesetz vorgesehenen Befreiungsmöglichkeiten noch hinausgegangen wird, auch vom so genannten superbefreiten Vorerben.
5. Kann der Vorerbe auch umgekehrt stärker beschränkt werden, als gesetzlich vorgesehen?
Ebenso besteht im Übrigen die Möglichkeit, die gesetzliche Beschränkung des Vorerben noch zu verschärfen. Die Verfügungsbefugnis kann beispielsweise weiter beschränkt werden, und die Möglichkeit zur Verwaltung des Nachlasses und zur Verfügung über Nachlassgegenstände durch Bestellung eines Testamentsvollstreckers dem Vorerben ganz entzogen werden. Der Erblasser kann den Vorerben auch durch Vermächtnis zugunsten des Nacherben verpflichten, nur noch Nutzungen in bestimmter Höhe aus dem Nachlass zur eigenen Verwendung zu ziehen. Das Recht zur Ziehung von Früchten kann auch durch Nießbrauchsvermächtnis einem Dritten eingeräumt werden. Schließlich kann bestimmt werden, dass der Fruchtertrag beim Nacherbfall dem Nacherben herauszugeben ist.
Wer sicherstellen möchte, dass er aus der Vielzahl von Gestaltungsmöglichkeiten diejenige wählt, mit der sein letzter Wille nach dem eigenen Tod am effektivsten realisiert werden kann, sollte sich für die Errichtung einer letztwilligen Verfügung anwaltlich beraten lassen.
Tanja Stier
Rechtsanwältin